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Frauen
Gertrude Blanch
1897-1996

Das Leben der Gertrude Blanch könnte als Muster für eine typische US-Immigratinnenkarriere dienen: eine junge intelligente Frau, die ihr Heimatland verlassen musste, viele Schwierigkeiten überwand und eine erfolgreiche Mathematikerin wurde. In ihrem Fall muss nur eine kleine Wendung zur Story hinzugefügt werden: die mathematische Ausbildung verzögerte sich um 14 Jahre und sie beendete diese erst im Alter von 40 Jahren. Auch wenn die Verzögerung für Gertrude Blanch viele Frustrationen gebracht hatte, erwies sie sich doch im Nachhinein als einzigartige Kombination von Fähigkeiten, die für die Leitung des Mathematical Tables Project - dem weltweit größten und anspruchsvollsten aller Projekte mit menschlichen RechnerInnen - ideal waren.

Sie wurde als Gittel Kamovitz am 2. Februar 1897 in Polen geboren. Ihr Vater floh vor den Judenprogromen in die USA und holte 1907 die Familie nach New York. Ihre große mathematische Begabung war offensichtlich und bereits mit 10 Jahren erklärte Gertrude Blanch, dass sie Mathematikerin werden wolle. Doch als sie mit siebzehn die Schule beendete, starb ihr Vater. Ein Studium war nicht finanzierbar. Sie musste eine Bürotätigkeit in Manhattan annehmen, um ihre Mutter und Schwester zu unterstützen. Die Jahre von 1914 bis 1928, in denen sie nun als Angestellte arbeiten sollte, markierten einen Boom in der US-Wirtschaft. Neue Managementmethoden und moderne Büroorganisation wurden propagiert, Rechnen und Kalkulieren entwickelten sich zu wichtigen Elementen im Wirtschaftsleben. Die Wirtschaftsliteratur jener Tage warb für maschinengestützte Rechenmethoden in der Buchhaltung und Betriebsplanung, doch diese Texte waren auch nützlich für Menschen, die noch per Hand vorgehen mussten. Sie beschrieben Methoden, wie Probleme vereinfacht werden konnten, wie Ergebnisse langer Berechnungen geprüft oder zuvor berechnete Teilergebnisse mehrfach verwendet werden konnten. Gertrude Blanch sammelte diese Literatur ohne zu ahnen, wie wichtig sie einige Jahre später für sie sein würde. Sie arbeitete für verschiedene Firmen, stieg trotz fehlender College-Ausbildung auf und war zuletzt in einem großen Hutmacher-Konzern für Buchhaltung, Finanzen und Planung zuständig.

All die Jahre sparte sie für ein Studium. 1926 starb ihre Mutter und sie begann mit Abendkursen in der New York University. Von 1928 bis 1932 studierte sie dort Vollzeit Mathematik und Physik, 1935 beendete sie ihre Promotion an der Cornell University. Doch die Weltwirtschaftskrise traf sie hart - es gab keine Arbeit für AkademikerInnen. Nach einer einjährigen Vertretungsprofessur an einem Frauencollege erhielt sie als Mathematikerin nichts, deshalb entschied sie sich wieder für einen Bürojob.

Bei einem Weiterbildungkurs lernte sie 1938 einen der Planer des Mathematical Tables Projects kennen, der sie umgehend als Technische Direktorin einstellte. In der Planungsrunde des Projekts hatte niemand außer Blanch Erfahrung mit Rechenarbeit, und ihr gelang binnen kurzem eine einzigartige Verknüpfung von theoretischer, angewandter und Wirtschaftsmathematik. Schon nach einem Jahr machten die Ergebnisse Furore in der Wissenschaftswelt und Gertrude Blanch zur führenden Rechenexpertin. Im zweiten Weltkrieg erhielt das Projekt wichtige Aufgaben der Army sowie der Navy und arbeitete u.a. an Berechnungen für das Los Alamos Projekt. Blanch war Chefberaterin der US-Regierung in Fragen der Angewandten Mathematik und beriet vielfach bei der Einrichtung der neuen elektronischen Großrechnerprojekte. Im Zuge dessen begann sie, die Literatur zum wissenschaftlichen Rechnen zu systematisieren. Zugleich verfasste sie ein Buch zur numerischen Analysis und unterrichtete MitarbeiterInnen des Mathematical Tables Project.

Nach dem Krieg wurde das Projekt in das National Bureau of Standards (NBS) integriert, Blanch blieb Direktorin und tauschte sich intensiv mit Forschungen im Bereich elektronischer Rechenanlagen aus. 1948 wechselte sie nach Los Angeles als Assistenzdirektorin an das neu gegründete NBS-Institute for Numerical Analysis. Hier setzte sie alte Forschungen zu Mathieu Funktionen fort, einem Gebiet, das unwichtig für die neuen Computerentwicklungen wurde, aber Gertrude Blanch für den Rest ihres Lebens interessierte. 1953 gerieten KollegInnen und sie in die Antikommunismus-Hysterie mit den McCarthy-Verfolgungen und das gesamte Institut wurde geschlossen. Ein Freund holte sie in ein Air Force-Projekt nach Ohio, wo bis zur Pensionierung 1967 wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung numerischer Verfahren in der Luftfahrtforschung leistete. Sie wurde in diesen Jahren vielfach mit Ehrungen ausgezeichnet.

Anschließend forschte sie noch kontinuierlich weiter und hinterließ bei ihrem Tod 1996 zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte. Doch kein Nachruf erschien, die Informatikwelt hatte sie vergessen. - Vergessen zusammen mit der Erinnerung daran, dass es vor den Triumphen der Großrechner eine Zeit gab, die Generationen alte Rechenverfahren nutzte, welche BuchhalterInnen ebenso wie MathematikerInnen gehörten.

Die berufliche Entwicklung der Mathematikerin Gertrude Blanch repräsentiert wohl wie keine andere den Übergang von der Organisation handgesteuerter Rechenautomaten zur modernen Computerära. Die maßgeblich von ihr aufgebauten Gruppen von RechnerInnen lieferten einerseits ein Strukturmodell für elektronische Rechnenanlagen. Weitaus wichtiger war aber die Entwicklung numerischer Methoden des wissenschaftlichen Rechnens und der Nachweis, das diese Rechenverfahren wichtige theoretische und praktische Probleme lösen konnten.